Rad des Lebens
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Prof. Siegfried Bauer, Kaiserslautern: Gedanken zu Bildern von Kurt Ries

Will man sich der Bilderwelt von Kurt Ries nähern, das geistige Anliegen und den Standort des Künstlers in der gegenwärtigen Kunstlandschaft kennenlernen, so ist der Versuch wohl unumgänglich, sich einen kurzen Überblick über die Kunstentwicklung im 20. Jahrhundert zu verschaffen.
Vom Beginn des Jahrhunderts bis zum Jahre 1945 ereignete sich eine chronologisch ablaufende Folge von Stilwandlungen: Expressionismus, Kubismus, Dadaismus, Surrealismus, Konstruktivismus und Abstraktion, Neorealismus etc., deren Wechsel sich in immer rascher aufeinanderfolgenden Intervallen abspielte, gewissermaßen als jeweils direkter Gegenpol zur vorausgegangenen Stilrichtung. Trotz der einschneidenden Endzeiterfahrungen des 2. Weltkrieges, blieb die Fortschrittseuphorie als impulsgebende Kraft erhalten, sowohl in der Gesellschaft als auch speziell in der Kunst. Die bisherigen Kunststile wurden wieder aufgegriffen, neu definiert und weiterentwickelt. Die Stilverbindlichkeiten der jeweiligen Avantgarden waren aber nie in Frage gestellt, sie manifestierten sich in neuen Begriffen, auswahlsweise als: Action Painting, Informal, Op Art, Neosurrealismus, Pop Art, Fotorealismus, kritischer Realismus, Minimal Art etc.. Als Folge der schmerzlichen Erfahrung unserer Forschrittsgrenzen in der Ökonomie und Ökologie, vollzog sich in den siebziger Jahren eine radikale Wende in der Seinserkenntnis, die selbstverständlich auch in der Kunst ihren Ausdruck fand. Die Künstler fühlten sich zur Rückbesinnung auf Traditionen aufgefordert, natürlich nicht indem man diese nachahmt, sondern indem man sie ebenso unnachsichtig analysiert wie ihre verunsicherte Gegenwart und Zukunft. Das alles beherrschende Zauberwort Innovation verlor seine Bedeutung. Es entwickelte sich ein verwirrendes Nebeneinander unterschiedlicher Kunstäußerungen, die eigentlich keine Stile im Sinne des Avantgardebegriffs mehr sind. Die Künstler streben heute eine bewusste Anbindung an die gesamte Kulturgeschichte an und versuchen motivische und stilistische Zitate aus allen Kulturen der Menschheitsgeschichte in die eigene Arbeit einzubringen. Dass dieses Phänomen in Verbindung mit dem Beuys'schen „erweiterten Kunstbegriff" natürlich nicht nur zu einer bisher noch nie dagewesenen Freiheit der künstlerischen Tätigkeit, sondern darüber hinaus zu einer totalen Konfusion innerhalb der „Szene" führte, ist eine traurige Nebenerscheinung. Diese ist leider nur über den Kunstmarkt zu regulieren und verschafft dem Nichtfachmann in künstlerischen Angelegenheiten wenig Transparenz und Orientierungshilfe.
Dies ist die Situation, in welcher sich ein Künstler wie Kurt Ries existenziell einzurichten hat. Ist es überhaupt noch möglich, in einem so unübersichtlichen, verwirrenden geistigen Umfeld, seine eigene Position zu wahren und seine künstlerischen Vorstellungen überzeugend zum Ausdruck zu bringen? Ist nicht die Versuchung groß, dem Lohn des raschen Erfolgs zuliebe, sich anzupassen und am eigenen künstlerischen Credo Verrat zu üben? Wie hat sich unser Künstler entschieden?
Als Grafik-Designer erhielt Kurt Ries eine theoretische und praktische Ausbildung. Im Umgang mit den angebotenen Mitteln und Möglichkeiten zeichnete sich immer deutlicher die Vorliebe für ein freies künstlerisches Gestalten ab. So war es nicht verwunderlich, dass sich Kurt Ries dazu berufen fühlte, als freischaffender Maler und Grafiker zu wirken. Seine große Fähigkeit, visuelle Wahrnehmung zeichnend und malend in eine neue, künstlerische Realität zu verwandeln, führte ihn auf ganz natürlichem Wege in den Einflussbereich der Neuen Wiener Schule. Diese, dem Phantastischen Realismus verpflichtete Bewegung, versuchte mit traditionellen, altmeisterlichen Techniken an die Kultur des Manierismus (von der Spätrenaissance bis zur Barockzeit) anzuknüpfen. Was war das Besondere dieser Stilrichtung? Im Gegensatz zum klassischen Prinzip, welches das „Verborgene des Mysteriums" mit den verständlichen Formen der Natur gestaltete, wollte der Manierismus das „Verborgene des Mysteriums" mit Mitteln der Deformation zur Wirkung bringen. Beide Prinzipien sind - in jeweils andersartiger Weise - auf das Abgründige bezogen. Man hat es im metaphysischen Sinne zwar mit zwei voneinander verschiedenen, aber auf ihre Art durchaus seinsbezogenen Urgebärden der Menschheit zu tun. Eingebunden in das Spannungsverhältnis hatte Kurt Ries den ihm gemäßen Nährboden für seine künstlerische Entwicklung gefunden. Jedoch der reine psychische Automatismus, die willkürlichen Ausbrüche einer entfesselten Assoziationsmechanik sind nicht seine Sache gewesen. Eine Malerei ohne jede durch den Verstand ausgeübte Kontrolle, ohne ästhetischen oder moralischen Bezug konnte ihn nie faszinieren. In jeder Phase des Schaffensprozesses diente der kritische Verstand des Künstlers Ries als kontrollierende Instanz. Er versucht den Ursprüngen und Folgen des Phänomens der Selbstentfremdung sowie der Entfremdung des Individuums von Gesellschaft, Kultur und Natur nachzusinnen. Die so entstandenen Bilder sind gewissermaßen Synonyme der vielgestaltigen Risse und Brüche in unserer Zeit, die für einen sensitiv veranlagten Künstler unübersehbar sind. Seine Arbeiten erzielen durch ihre beeindruckende Symbolsprache - ausgeführt in traditionsverpflichtender Malweise - eine enorme suggestive Wirkung. Leben ist Bewegung, Beharren auf einem erreichten Standort bedeutet Stagnation. Für einen Künstler bedeutet dies, Eindrücke aufzunehmen und im eigenen Werk zu verarbeiten. Neue Einflüsse erweitern den bisherigen Themenkreis; vor allem erkenntnistheoretische Einsichten treten in den Vordergrund des eigenen Interesse. So wie z.B. die Logik und das Experiment Grundpfeiler der Wissenschaft sind, bedeuten Intuition und Einsicht dasselbe für die Kunst. Die vergleichbare Auseinandersetzung mit Begriffspaaren wie irrational-intuitiv, konvergent­divergent, digital-analog, abstrakt-konkret, objektiv-subjektiv, sukzessiv-simultan etc. erweitern den Erlebnishorizont des Künstlers und führen ihn von bewussten, oberflächlichen,
in tiefere archaische Seinsschichten. Alles was sich nun auf der Bildebene des Malers thematisch ereignet steht in diesem Spannungsverhältnis und gestaltet die Rezeption durch den Betrachter so lebendig. Mag auf den ersten Blick die Fülle an Eindrücken, die ein Bild von Kurt Ries bietet, vielleicht verwirrend sein, so entschlüsselt sich seine Botschaft bei gründlicher Betrachtung nicht als Verneblungstaktik, sondern als klärender Vorgang im Sinne der o.a. Polarisation. Eine Bildbetrachtung üblicher Art wäre hier natürlich unangebracht. Die Arbeitsweise von Kurt Ries ist subtil geblieben und hat sich dem Erfolgstrend des Plakativen bzw. des großen Formats nicht untergeordnet! Mit der inhaltlichen Erweiterung seiner Bildsprache hat sich selbstverständlich auch die Syntax verändert. Die vorhergehend bewunderte Präzision der figurativen Bestandteile seiner Komposition ist einem freien, spontanen Duktus der Darstellungstechnik gewichen. Die nach wie vor nicht aufgegebene Klarheit der formalen Bezüge (Syntax) korrespondiert frei schwingend mit den intuitiven Anteilen im polaren Kontrast.
Mit der verbalen Sprache hat sich der Mensch die Fähigkeit erworben, einen Sachverhalt gedanklich aufzubereiten und als Mitteilung zu formulieren. Für das Entwickeln und Bearbeiten künstlerischer Gestaltungsprobleme gilt die gleiche Voraussetzung. Wir benötigen dazu eine Bildsprache, die als Konsens von allen Menschen verstanden wird. Wenn sich in der Semiotik ein Satz in seine syntaktische, semantische und pragmatische Dimension gliedert, so hat dies auch für den Bereich der Bildsprache seine Gültigkeit. Kurt Ries hat diesen Grundsatz immer beachtet, und dieses ist sicher auch der Grund, weshalb der gegenwärtig alles beherrschende Stil der Konzept-Art kein Thema für ihn sein kann, weil dieser Sprache die Syntax fehlt. Seit Menschen sich künstlerisch betätigen, dürfte dieser Tatbestand wohl als der bedeutendste Paradigmenwechsel in der Kunstgeschichte gelten, vorausgesetzt man ist ein gläubiger Mensch. Bisher ging es in der Kunstgeschichte primär niemals um das Was, sondern immer um das Wie. Nicht was dargestellt ist entscheidet über Wert oder Unwert eines Kunstwerkes, sondern wie es dargestellt ist. „Das Wichtige, das Ausschlaggebende", schreibt Jakob Burckhardt, „ist das ewig neue Wie". Diese These ist so evident, dass man sich wundert, wie hartnäckig heute das Gegenteil behauptet wird. Hebbel notiert in seinen Tagebüchern: „Die Form ist der höchste Inhalt". Schoppenhauer formuliert in einem Kapitel über Schriftstellerei und Stil: „Das Verdienst eines Schriftstellers ist um so größer, je weniger es dem Stoffe verdankt...". In diesem Sinne schreibt Goethe 1826: „Den Stoff sieht jedermann vor sich, den Inhalt findet nur der, der etwas dazuzutun hat, und die Form ist ein Geheimnis den Meisten", und wenn Gottfried Benn in einem seiner Gedichte postuliert: „Form nur ist Glaube und Tat...", wird er ebenfalls das Gleiche gemeint haben. Übertragen in den Bereich der Bildenden Kunst finden wir, vor allem in nahezu sämtlichen modernen Kunsttheorien, kongruente Manifeste. Eine seit Jahrhunderten gültige Übereinstimmung über Beurteilung von Kunst wurde mit dem Eintreten von konzeptuellen Richtungen in der Kunstszene außer Kraft gesetzt; und das in einem Jahrhundert, welches sich in einem permanent desolaten Zustand befindet. Welch unglaubliche Arroganz. Hier scheiden sich natürlich die Geister. Kurt Ries ist auf dieses verführerische Angebot nicht eingegangen, weiß er doch sehr wohl, dass sich hinter „dieses Kaisers neuen Kleidern" das absolute Nichts verbirgt.
Nehmen wir also die Einladung des Künstlers an, um in einer Wanderung durch seine Bilderwelt diesem Geflecht von realen Bezügen und Metaphern, nicht nur seinem geistigen Anliegen zu folgen, sondern unter günstigen Umständen eigene Seinerfahrungen zu erleben. Seine Kunst ist nicht nur eine stille Kunst, sie ist sehr subtil und vielschichtig angelegt und verlangt von uns die Bereitschaft zur Konzentration, damit wir selbst zur Kontemplation gelangen können. Zum wahren Hören von Musik bedarf es eine jeweils angemessene Zeitspanne. Das Erleben von Bildern, sofern sie einen nicht nur dekorativen Auftrag zu erfüllen haben, macht eine adäquate Zuwendung erforderlich.


Prof. Siegfried Bauer, Kaiserslautern 1995